Anbei ein offener Brief der Landesarbeitsgruppe (LAG) – NABU / Niedersachsen zum Thema Insektensterben an die Bundeskanzlerin und weitere Politiker…
OFFENER BRIEF
an die Kanzlerin der Bundesrepublik Deutschland, Frau Dr. Angela Merkel
an die Vorsitzenden der in den Landesparlamenten Niedersachsen und Bremen sowie des Bundestags vertretenen Parteien
sowie an die für Landwirtschaft und für Umwelt in den Ländern Niedersachsen und Bremen und der Bundesrepublik Deutschland zuständigen Ministerien
Sehr geehrte Frau Dr. Merkel, sehr geehrte Damen und Herren,
anlässlich des Jahrestreffens 2017 der nordwestdeutschen Lepidopterologen/Schmetterlingskundler wenden wir uns an Sie in großer Sorge wegen des eklatanten Rückgangs der Populationen der Schmetterlinge respektive aller Insekten, den wir seit Jahren beobachten. Das gilt für die Anzahl der einzelnen Arten, aber auch für die Anzahl der Individuen häufiger Arten. In dieser Beobachtung sehen wir uns lange schon einig mit den Fachleuten aus den anderen Bundesländern.
- Im Jahr 2014/15 machte der Arbeitskreis Schmetterlinge anlässlich einer Ausstellung des Naturwissenschaftlichen Vereins im Überseemuseum Bremen anhand eines Schaukastens mit Exemplaren von 39 Tagfalter-Arten, die im Raum Bremen ursprünglich heimisch und im Insektenmagazin des Museums dokumentiert sind, und eines zweiten Kastens, in dem die Arten, die in den letzten Jahren im selben Beobachtungs-Raum nicht mehr nachweisbar waren und deshalb weggelassen wurden, den Besorgnis erregenden Umfang des Artenschwunds sichtbar: der zweite Schaukasten wies erschreckend große Lücken auf.
Was schon lange durch die Roten Listen der gefährdeten Insektenarten in Niedersachsen und Bremen belegt ist (unter den Schmetterlingen wurden 2004 bereits 58 % als gefährdet eingestuft), wird jetzt durch die Langzeit-Studie PLoS One- Studie zum Insektensterben noch einmal unter anderen Gesichtspunkten auf alarmierende Weise bestätigt! Nicht nur die Artenvielfalt an Insekten schwindet, sondern auch die Biomasse der Insekten insgesamt! Wir halten die von Insektenkundlern aus Krefeld erarbeiteten und von Wissenschaftlern aus den Niederlanden und England methodisch bestätigten Ergebnisse für wissenschaftlich glaubwürdig. Seit 1989 bis zum Jahr 2016 ist die Biomasse flugaktiver Insekten in 63 Schutzgebieten in Deutschland um 76,7 % eingebrochen. Dieser Rückgang war nachweislich unabhängig von der Witterung sowie Habitatveränderungen zu beobachten (http://journals.plos.org/plosone/article?id=10.1371/journal.pone.0185809 ).
Auch unsere eigenen langjährigen Beobachtungen und Ergebnisse bei Tagesexkursionen und bei der Nachtfaltererfassung des Anflugs an Lichtfanganlagen und Köderschnüren in Bremen und Niedersachsen zeigen einen erschreckenden Rückgang von Individuen und Arten.
Diese Ergebnisse verlangen politisches Handeln, zumal ca. 80% aller Nutzpflanzen auf Bestäuberorganismen angewiesen sind.
Dass die angrenzende intensive Landwirtschaft mit verantwortlich sei für diesen Rückgang wird seitens der Wissenschaftler nicht bewiesen, allerdings stark vermutet. Das Bundesamt für Naturschutz hat 2017 festgestellt, dass der Rückgang der Artenvielfalt in den landwirtschaftlichen Flächen am höchsten ist.
Neben intensiver und einseitiger Landnutzung, dem Verlust insektenfreundlicher Lebensräume ( Blühwiesen, Feldraine, Brachen, Hecken… ) und der allgegenwärtigen Überdüngung trägt der umfassende Einsatz von Pestiziden zur Besorgnis erregenden Entwicklung bei.
Zahlreiche Wissenschaftler sehen einen Zusammenhang zwischen dem Rückgang der Insekten und dem massiven Ausbringen von Neonikotinoiden ( etwa in gebeiztem Saatgut ) seit Beginn der 1990iger Jahre. Diese Stoffe stehen im dringenden Verdacht, sich durch Abdrift von Stäuben und Kontamination von Pollen und Nektar zu verbreiten sowie in Boden und Grundwasser langfristig wirksam zu sein. Neonikotinoide treffen auch sogenannte Nichtzielorganismen wie z.B. Schmetterlinge oder auch Wild- und Honigbienen.
Zahlreiche andere Tiere sind wiederum auf diese Insekten angewiesen. Nicht verwunderlich, dass die Anzahl der insektenfressenden Vögel und der Bodenbrüter, sowie weiterer auf Insekten angewiesener Wirbeltiere ( Amphi-bien, Reptilien, Fledermäuse, … ) in den letzten Jahren nachweislich signifikant zurückgegangen ist.
Wenn wir weiter zusehen, wie all diese Bestände einbrechen, ohne angemessen auf diese Gefahr für die Natur, damit uns selbst und für künftige Generationen zu reagieren, tragen wir dazu bei, dass der Artenreichtum der Natur und ihr Gleichgewicht noch weiter als bisher schon gefährdet werden. Und wir tragen die Verantwortung dafür, dass zahlreiche weitere Arten unwiederbringlich verloren gehen.
Wir dürfen die längst sichtbaren Veränderungen von großer weltweiter Tragweite – für uns durchaus vergleichbar mit der des Klimawandels – nicht negieren. Gehen wir nicht zur Tagesordnung über! Handeln wir jetzt!
Richtschnur für das Handeln muss die Verantwortung für eine zukunftsorientierte naturverträgliche und Gesundheit garantierende Landwirtschaft sein. Dieser Verantwortung müssen sich auch Bauernverbände und Agrarkonzerne stellen. Bis zum Jahr 2050 müssen prognostizierte 10 Milliarden Menschen auf diesem Planeten satt werden. Genügend Lebensmittel bereit zu stellen unter Bedingungen, die der Natur eine Chance lassen, ihre Vielfalt und ihr bedrohtes Gleichgewicht zu behalten, ist eine wesentliche Zukunftsaufgabe für alle. Sie ist nur mit einer neu ausgerichteten nachhaltigen Landwirtschaft zu bewältigen.
Eine ständig zunehmende Anzahl von Bürgerinnen und Bürgern sind besorgt und erwarten auf der politischen Ebene Maßnahmen, die dem Verschwinden der Insekten und anderer Arten – damit der Verarmung der Natur – entgegenwirken können. Ob Sie in Regierungsverantwortung, in Opposition oder derzeit in Koalitionsverhandlungen sind: legen Sie klare Ziele fest und handeln Sie jetzt!
- Ergänzen Sie die Ergebnisse der Krefelder Insektenkundler und der ihre Ergebnisse bestätigenden Wissenschaftler, in dem Sie mittels umfangreicher Monitorings die Roten Listen hinsichtlich Qualität und Quantität der einzelnen Populationen und ihrer Nahrungspflanzen aktualisieren.
- Fördern und intensivieren Sie die Forschungen, die geeignet sind, die Gründe für den massiven Schwund der Arten weiter zu verifizieren und ökologisch unbedenklichere Alternativen zu den umfänglich schädigenden chemischen Wirkstoffen zu entwickeln. Schaffen Sie unabhängige Forschungseinrichtungen.
- Sichern Sie ein dauerhaftes Verbot der sogenannten Neonikotinoide, die Schmetterlinge, Bienen und andere Insekten töten, und stellen Sie die Entscheidung, Glyphosat für weitere 5 Jahre zuzulassen, noch einmal auf den Prüfstand. Es vernichtet jede Pflanze, die Nahrung für Insekten sein kann und gefährdet die Gesundheit von Menschen.
- Verpflichten Sie alle, die diese Stoffe ausbringen, zur Dokumentation und lassen Sie diese Daten auswerten.
- Verknüpfen Sie Agrar-Subventionen mit Auflagen, die Umweltverträglichkeit und Artenvielfalt gewährleisten.
- Fördern und subventionieren Sie Vorhaben, die insektenfreundliche nahrungsreiche Lebensräume erhalten bzw. wiedererrichten und fördern Sie Öffentlichkeitsarbeit zur Stärkung des allgemeinen Problembewusstseins.
- Machen Sie den Schutz der Artenvielfalt zu einer zentralen Aufgabe Ihrer politischen Arbeit und beweisen Sie Mut in der Auseinandersetzung mit Landwirtschaftsverbänden und Agrarkonzernen überall da, wo diese nicht ernsthaft den Naturschutz in den Blick nehmen, das Einbringen von Umwelt-Giften nachhaltig reduzieren und ökologisch unbedenklichere Stoffe entwickeln und einsetzen.
Wir alle müssen umdenken und im Sinne einer Agrarwende handeln lernen!
Manches wird bereits getan. Wir können und müssen viel mehr tun. Und brauchen dazu politische Entscheidungen! Jetzt!
„Haben wir eine größere Aufgabe, als die Schöpfung zu bewahren und damit die Nachwelt zu schützen? Ich kenne keine.“ * *aus der Rede des Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker beim Staatsakt zum „Tag der deutschen Einheit“ vom 03. Oktober 1990.
Ihrer Antwort sehen wir mit Interesse entgegen.
Michael Abendroth/Bremen, Jutta u. Holger Bischoff/Bremen, Kristin Böhm/Oldenburg, Axel Book/Westoverledingen, Dr. Frank Brüning/Groß Henstedt-Bassum, Jörg Brüning/Linsburg, Henning Cordsen/Rastede, Erk Dallmeyer/Binnen, Siegfried Eisend/Bremen, Frank Geisler/Selsingen, Günter Grein/Hildesheim, Holger Gröschl/Ganderkesee, Michael Haag/Bremen, Hans-Heinrich Hahlbohm/Rodewald, Uwe Handke/Delmenhorst, Carsten Heinecke/Oldenburg, Michael Heinemann/Bremen, Karola Herrmann/Hannover, Günter Heyde/Bremen, Dr. Herbert Hohmann/Bremen, Judith McAlister-Hermann u. Gerhard Hermann/Ronnenberg, Hanne Knott/Balge, Frank Ludwig/Uetze, Dieter Mehring/Nienburg, Sebastian Moritz/Seelze, Klaus Müller/Prezelle, Sebastian Nennecke/Bremen, Regina Nürge-Krug u. Dr. Michael Krug/Nienburg, Inga u. Christoph Probst/Husum, Holger Raß/Rastede, Helmut Riemann/Bremen, Martin Rode/Bremen, Frank Rosenbauer/Münster, Hilke Ruschmeyer/Soltau, Johanne Sailer/Heemsen, Robert A. Schütz/Bremen, Jan Schulze/Binnen, Hartmut Schwarz/Loxstedt, Guido Schilling/Husum, Dr. Petra Sittig/Stadthagen, Dr. Michael Stern/Hannover, Barbara Thiele-Wittig/Husum, Irene Timm/Höhbeck, Ulrich Topp/Nienburg, Friederike Vornkahl/Söhlde, Kirsten Wedlich/Hannover, Dr. Georg Wietschorke/Bremen, Georg Wilhelm/Hannover, Heiko Wittje/Oldenburg, Elisabeth Woesner/Oldenburg, Gabriela u. Jürgen Zimmermann/Lemgow-Schletau und viele weitere
Arbeitskreis Schmetterlinge des Naturwissenschaftlichen Vereins zu Bremen; Landesarbeitsgruppe Schmetterlinge/NABU Niedersachsen; Schmetterlings AG des NABU Oldenburg; Schmetterlings AG des NABU Oldenburger Land; Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND)/Landesverband Bremen e.V./Geschäftsführung; Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND), Kreisgruppe Nienburg; AG Schmetterlinge/Entomologie des NABU-Hannoverscher Vogelschutzverein; Jahrestreffen 2017 der nordwestdeutschen Lepidopterologen/Schmetterlingskundler
Kontakt: Michael Haag mhaag@uni-bremen.de
Axel, Dank an dich für das Weiterleiten des Briefes.
Ja, es muss mehr und mehr darauf hingewiesen werden.
In einem Buch für Kinder, dass auc für Ewachsene gelesen
werden kann stand sinngemäß: Wenn die Umwelt umfällt,
fallen wir auch auf den Bauch.
Jeder denkt nur an sich, sein Wohlergehen? Wenn das so ist,
dann muss er die Umwelt einbeziehen. Ohne eine lebendige
U,Welt kein lebendiges Leben.
HG vd
Sehe ich genau so wie es in dem Brief geschrieben ist.
Trifft mit Sicherheit auch für Schleswig/Holstein zu.
Vielen Dank für Ihre Initiativen.
Mit freundlichen Grüßen
Klaus Fenger